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Kleine Poetik der Schublade

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Schubladen dienen bekanntlich der Aufbewahrung von Dingen und der Stiftung von Ordnung, auch wenn in ihnen hĂ€ufig das Chaos regiert. Meist befinden sie sich an Orten, wo man sie ĂŒbersieht. Obwohl Schubladen in vielen literarischen Texten eine entscheidende Rolle spielen, bleiben sie in der Literatur- und Kulturgeschichte hĂ€ufig unbemerkt. Höchste Zeit also, einen Blick hineinzuwerfen.

Von Goethe bis Musil nimmt der Essay von Christian Begemann Funktionen und Bedeutungsebenen dieses sehr speziellen BehĂ€ltnisses in den Blick. Die Literatur des 19. Jahrhunderts und der frĂŒhen Moderne entfaltet nĂ€mlich eine regelrechte Poetik der Schublade, deren Inhalt etwa der Charakterisierung von literarischen Figuren dient. Aber in und aus ihnen entspringen auch Handlungen, wenn etwa Dinge, Aufzeichnungen oder Briefe zutage treten, die das Leben der Figuren einschneidend verĂ€ndern. Mitunter werden ganze Geschichten aus Schubladen hervorgesponnen: Katastrophen, kleine und große, Liebesdesaster und Ehekrisen. Das spiegelt sich auch in der Konstruktion von ErzĂ€hlungen wider, die als alte BlĂ€tter fingiert in Schubladen aufgefunden werden. Schubladen sind RĂ€ume des GedĂ€chtnisses, damit aber auch RĂ€ume des Unbewussten. Neben lĂ€ngst vergessenem Plunder finden sich dort auch Objekte, in denen Erinnerung gespeichert ist, und die, oftmals gespenstisch und zerstörend, die Vergangenheit wiederkehren lassen. Dass hier KrĂ€fte am Werk sind, die ungerufen auftreten und sich nicht steuern lassen, macht die spezielle Magie der Schublade aus. Schaut man genauer in sie hinein, werden Fragen eines kulturellen ImaginĂ€ren aufgeworfen, das Risse im modernen Bewusstsein markiert.